Warum klagen wir über die Natur?

Sie hat sich doch großzügig gezeigt: Das Leben ist lang, wenn man es zu nutzen weiß.

Aber den einen hat unersättliche Gier im Griff, den nächsten die Beschäftigung mit überflüssigen Aufgaben. Dieser trieft vor Wein, jener dämmert im Stumpfsinn herum. Ein weiterer reibt sich durch einen Ehrgeiz auf, welcher stets an die Meinungen anderer
Menschen gekoppelt ist. Und einige treibt das Verlangen nach Profit kopfüber in den Handel mit der ganze Welt und über alle Meere hinweg. Wieder andere zieht es in den Kriegsdienst – entweder um Fremden Gefahren zu bereiten oder aus Angst vor eigener Bedrohung.

Und es gibt auch solche, die sich wie freiwillige Sklaven für undankbare Vorgesetzte zermürben.

Viele können nicht vom Glück anderer Menschen lassen – oder von der Klage über die eigene Situation.

Und weil sie kein festes Ziel verfolgen, rennen die meisten haltlos, wankelmütig und leichtsinnig in immer neue Pläne.
Anderen ist kein bestimmter Kurs recht, sondern sie lassen sich vom Schicksal matt und schlaff einholen.

Daher zweifle ich nicht daran, dass wahr ist, was der größte aller Dichter ein Orakel sagen lässt: „Bloß einen kleinen Teil unseres Lebens leben wir.“

Die restliche Existenz ist nicht Leben – sondern bloße Zeit.

Laster bedrängen uns von allen Seiten. Sie gestatten es den Menschen nicht, sich zu erheben und auf die Wahrheit zu fokussieren.
Vielmehr drücken sie nach unten und ketten an die Begierde.
Ihre Opfern dürfen nie zu sich selbst finden. Und wenn sie jemals eine befreiende Pause erleben, werden sie herumgeworfen wie das Wasser des tiefen Meeres, welches auch nach dem Sturm noch aufgewühlt ist: Sie finden keine Ruhe vor ihren Lüsten.

Denkst du, ich rede von den Unglücklichen, deren miese Lage jedem klar ist?
Schau dir die an, deren Wohlergehen allen bekannt ist: Sie ersticken an ihrem Glück. Für viele werden Reichtümer zur Last!

Und wie vielen saugt ihr Auftreten und das konstante Bemühen, ihr Können zu zeigen, die Lebensenergie aus?! Wie viele sind leichenblass vor permanentem Vergnügungen! Wie vielen lässt der Andrang von Kunden keine Freiheit!

Kurzum, geh sie alle der Reihe nach durch, vom niedrigsten bis zum höchsten: dieser Mann wünscht sich einen Anwalt, dieser antwortet auf die Anfrage; ein anderer muss vor Gericht, wieder ein anderer verteidigt ihn und ein dritter fällt das Urteil. Keiner ist für sich selbst da, sie alle dienen jeweils einem anderen.

Und frag dich nach den berühmten Menschen, deren Namen jeder kennt! Du wirst sehen, man sortiert sie nach folgenden Kriterien: der eine dient diesem, der andere jenem – keiner ist sein eigener Herr.

Völlig sinnlos ist daher auch so manche Empörung über die Arroganz der Höherstehenden, weil sie ja ach keine Zeit für eine Audienz haben.
Wie kann sich jemand über die Überheblichkeit eines anderen beklagen, wenn er selbst nicht einmal Zeit hat, sich um sich selbst zu kümmern?

Und ganz gleich wie niedrig du bist, der Höhergestellte schaut doch gelegentlich zu dir herab! Und wenn auch nur verächtlich – so hört er dir doch zumindest kurz zu. Du aber lässt dich nie dazu herab, auf dich selbst zu schauen, dir selbst Gehör zu schenken.

Es gibt ebenso keinen Grund, deine Aufmerksamkeit bei einem anderen anzurechnen. Denn als du dich um ihn gekümmert hast, wolltest du nicht die Gesellschaft eines anderen, sondern konntest nur deine eigene nicht ertragen.