Neu-Übersetzung von Senecas Von der Kürze des Lebens – Kapitel 3

Eigentlich haben sich sämtliche brillanten Geister aller Zeiten diesem Thema gewidmet. Doch es ist ihnen nie gelungen, ihr Staunen über die Verblendung des menschlichen Geistes angemessen auszudrücken.

Die Menschen lassen es nicht zu, dass sich jemand ihren Besitz unter den Nagel reißt. Selbst beim geringsten Streit über die Grundstücksgrenze werden rasch allerhand Waffen aufgefahren.
Aber sie erlauben es anderen, in ihr Leben einzudringen. Ja, sie führen andere sogar ein, um zukünftig davon Besitz zu ergreifen.

Ich kenne niemanden, der bereitwillig sein Geld verteilt. Aber an wie viele verteilt jeder von uns sein Leben?!

Wenn es um die eigenen Besitz geht, zeigen sich die meisten knausrig. Geht es jedoch um Zeitvergeudung, werden sie verschwenderisch. Und das gerade im einzigem Fall, bei dem Geiz ehrwürdig wäre.

Und so möchte ich zu einem altehrwürdigen Mann sagen: „Ich sehe, dass Sie die Spanne eines ganzen Lebens ausgereizt haben. Sie gehen sogar auf ihr hundertstes Jahr zu – oder noch mehr. Lassen Sie uns auf ihr Leben schauen und Bilanz ziehen: Wie viel ihrer Zeit haben Sie an Gläubiger abgetreten? Wieviel an eine Affaire, einen Vorgesetzten, einen Kunden, einen Streit mit dem Partner, dem Ärgern über Untergebene, dem Hetzen durch die Straße wegen einem Termin? Addieren Sie dazu noch die Krankheiten, welche wir uns selbst eingebrockt haben. Und nun fügen Sie noch die Zeit hinzu, welche ungenutzt verstrich. Sie werden sehen: Sie haben weniger Jahre auf Ihrem Konto als Sie gelebt haben.

Blicken Sie einmal zurück und fragen Sie sich, ob das jemals der Plan war.
Wie viele Tage sind verstrichen – und wie wenige haben Sie sich selbst zur Verfügung gestellt? Wann hat Ihr Gesicht jemals einen unverstellten (ungekünstelten/natürlichen) Ausdruck getragen, wann war Ihr Geist klar? Welches Lebenswerk hinterlassen Sie – und wie viel hat Ihnen das Leben geraubt? Besonders dann, als Sie sich nicht bewusst waren, was Ihnen abhanden geht. Wie viel ging an nutzlosen Kummer, törichte Freude, gieriges Verlangen und die süßen Verlockungen der Gesellschaft? Und wie wenig bleibt für Sie selbst übrig? Sie werden erkennen: Sie sterben vor der Zeit.“

Woran liegt das?

Du lebst, als würdest du ewig leben. Kein Gedanke an die eigene Gebrechlichkeit dringt je in unseren Geist/Kopf. Kein Gedanke daran, wie viel Zeit bereits verstrichen ist. Du nimmst keine Rücksicht auf dich selbst.

Du vergeudest Zeit, als ob du aus dem Überschuss eines reichen Vorrats schöpfen könntest. Und das obwohl der Augenblick, den du jemand anderen schenkst, dein letzter sein könnte.

Du fürchtest dich wie ein Sterblicher – und planst/begehrst doch, als ob du unsterblich wärst.

Du wirst viele Männer sagen hören: „Wenn ich fünfzig bin, trete ich kürzer, mit sechzig werde ich mich gänzlich zurückziehen.“ Welche Garantie haben sie, dass ihr Leben darüber hinaus gehen wird?

Wer stellt sicher, dass alles so verlaufen wird wie geplant?

Schämen sie sich nicht, sich nur den Rest ihres Lebens zu reservieren? Auch nicht dafür, nur jene Zeit der Muße einzuräumen, welche nicht für irgendwelche Geschäfte verwendet werden kann?

Ist es nicht viel zu spät, mit dem Leben dann anzufangen, wenn man es bald beenden muss?

Wie töricht, sinnvolle Pläne auf die Zeit nach Fünfzig oder Sechzig zu verschieben – und das Leben an einem Punkt zu beginnen, den nur wenige erreichen!